Mein Glaube muss nicht perfekt sein, aber lebendig

05.11.2018

Wie die Generation Y das Bild von Kirche verändern kann  

 

Titel

(Von Boris Eichenberger)
Ich liebe die Millennials – wie Vertreter*innen der Generation Y (Jahrgänge 1980 -2000) auch genannt werden. Ich lerne von ihnen neu, was alltäglich glauben bedeutet. Die Millennials hinterfragen und fordern heraus. Nicht, um anstössig zu sein, sondern um anzustossen. Sie fragen nach und hinterfragen, weil sie den Zusammenhang sehen und den Sinn verstehen wollen. Und so helfen sie mir, meinen Glauben immer wieder neu in Bezug auf meinen Alltag zu prüfen. Millennials suchen das Echte. Mein Glaube muss nicht perfekt sein, aber lebendig – und zwar nicht nur am Sonntagmorgen, sondern vor allem am Montag. Klar, Millennials wollen auch frei sein und flexibel und Spass haben und Abwechslung. Sie fordern heraus und strapazieren mein Bild von netter und geordneter Kirche bis zum Anschlag. Einige wollen sich nie festlegen, sich nur für beschränkte Zeit einlassen und zuerst ihren Nutzen abwägen. Das nervt – v.a. als Pastor, der auf verbindliches Miteinander angewiesen ist. Millennials fordern Feedback – andauernd, zeitnah und natürlich maximal wertschätzend. Sie sind optimistisch, denn schliesslich ging es trotz allen Krisen immer irgendwie weiter. Millennials teilen, denn in dieser Welt gehört doch alles irgendwie allen. Ausgleich ist ihnen wichtig. Sie leben nicht für den Job und nicht für die Kirche. Und ihr absolutes Anti-Bild ist der Leiter, der nie Zeit hat und sein Burn-out als Beweis seiner Hingabe sieht. Sie haben gelernt zu improvisieren und immer wieder neu ihren Weg durch den Dschungel der Optionen zu finden. Doch Traditionen nur um ihrer selbst willen gibt es bei ihnen nicht. Familien- und Kirchenrituale werden angepasst oder ganz abgeschafft. Und das alles liebe ich. Denn im Austausch mit Millennials bleibt am Ende das, was echt ist und das was lebt.

Über Millennials wurde schon viel geschrieben. Es gibt dabei aber auch einige Soziologen, die das pauschalisierende Generationenkonzept in Frage stellen. Zu den Kritikern gehört der leider bereits verstorbenen Psychologe Peter Kruse, einen Experten auf dem Gebiet der Lebensweltforschung. Aus seiner Sicht teilt sich die Generation Y in zwei fast gleich grosse Gruppen auf. Die eine Gruppe der Millennials orientiert sich wieder an klassischen Werten, Struktur und Autorität – also völlig anders, als wir es eigentlich vermuten. Die andere Gruppe sind die Unangepassten, die Hinterfragenden, die stillen Revolutionäre, die ich oben bereits beschrieben habe.

Die erste Gruppe wird weiter auf unsere pseudo-modernen Formen von Kirche abfahren, Führung annehmen, sich in ein System von Kursen und Regeln einfügen. Sie sind die braven netten, hungrigen und hip gekleideten Jugendlichen, die am Freitagabend in der Jugendgruppe abhängen, am Sonntag den Gottesdienst rocken, alles distanziert betrachten und es doch easy finden, irgendwie mitzuschwingen und am Ende unsere netten Systeme weiter zu pflegen und zu hegen. Sie werden viel bewegen in unserem Sandkasten der evangelikalen Kirchenszene, doch kaum darüber hinaus. Wie sollten sie auch die Gesellschaft verändern, wenn sie in der Kirche keinen Raum für ihre Fragen, ihre Zweifel, ihre Träume und Ideen finden?

Von der anderen Gruppe der Millennials lesen wir in Büchern und Artikeln. Sie sind die Unangepassten, die Hinterfragenden, die Suchenden, die Herausfordernden. Falls sie überhaupt noch in der Kirche sind und sich nicht schon lange gelangweilt und frustriert verabschiedet haben, träumen sie von authentischem Leben, von neuen Formen von Kirche, vom Ausbruch aus dem Trott, vom Aufbruch zum pulsierenden Leben. Sie sind die Suchenden nach dem warum, die Hinterfrager von heute, die Leiter von morgen, die Experimentierer von Neuem. Wenn überhaupt, dann sitzen sie in der hintersten Reihe. Sie mögen keine Lückentexte füllen, keine weitere PowerPoint sehen, keine Drei-Punkte-zum-Erfolg-Predigt hören. Nein – sie wollen lieber Zeit mit dir verbringen. Sie wollen sehen, wie dein Leben nach dem Gottesdienst aussieht. Sie fragen sich, was dein Glaube für dich persönlich bedeutet. Sie wollen miterleben, wie du betest und die Bibel liest. Sie wollen wissen, wie du deinen Glauben auf deinen Sex beziehst und ob du offen darüber sprechen kannst. Sie wollen von dir lernen, wie du Menschen liebst, die anders sind als du: die Frau mit Kopftuch, den Schwulen, den Penner. Es interessiert sie, wie sich dein Glaube auf deine Sicht auf Flüchtlinge und Sozialbezüger auswirkt und ob sie an deinem Esstisch einen Platz finden. Sie möchten dir über die Schulter schauen, wenn du deinen Stimmzettel ausfüllst und ob du beim Einkauf auf regionale Produkte oder fairen Handel achtest. Sie wollen sehen, ob du echt bist und ob dein Glaube in deinem Alltag Substanz hat. Sie wollen etwas sehen, nicht nur davon hören. Und nicht nur die Wunder, die God-Stories, die Heldengeschichten - auch das Versagen, die Kämpfe, den Dreck.

Die Millennials haben keine Angst vor deiner Meinung – sie wollen hören, was du denkst, aber sie wollen sich dabei ihre eigene Meinung bilden. Sie wollen sich an dir reiben, um ihren eigenen Standpunkt zu finden. Diese Millennials finden Jesus ganz cool, weil er Menschen an sich herangelassen hat und mit ihnen sein Leben teilte. Sie bewundern diesen Jesus, dem die Sünderin die Füsse wusch und der die religiösen Regeln durchbrach. Sie finden Jesus krass, weil er nicht nur etwas über den Himmel und das Leben nach dem Tod gesagt hat, sondern sehr viel über den ganz alltäglichen Umgang mit Menschen, über soziale Gerechtigkeit, über Weltverantwortung und ganzheitliche Spiritualität. Es ist der Jesus der Bergpredigt, der herausfordert und anstössig ist. Diesem Jesus wollen die Millennials neu entdecken und nachfolgen. Sehen sie diesen Jesus bei mir, bei dir – finden sie ihn in unseren Kirchen? 

Glaube und Millennials passen eigentlich gut zusammen. Beide suchen einen Lebensstil, die Nähe, etwas Rundes und Ganzheitliches. Beide sehnen sich nach einer besseren Welt. Sie träumen beide von Jesus, von einem guten König, von Gerechtigkeit und Frieden. Millennials sind bereit, sich auf das Glaubens-Abenteuer einzulassen, wenn sie spüren, dass man sie ernst nimmt und vor ihren Fragen keine Angst hat. Sie lassen sich gerne auf einen gemeinsamen Weg mit dir ein, sind aber sehr schnell wieder weg, wenn sie merken, dass es dir nur um dich und deine Vision geht. Sie ziehen sich zurück, wenn sie sich nicht ernst genommen fühlen. Sie lassen sich gerne einladen, zu dir nach Hause und in dein Leben. Sie haben keine Angst vor deinen Fragen und helfen dir gerne, sie besser zu verstehen. Und sie wollen von dir lernen, was es heisst, den Glauben zu leben!

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Boris Eichenberger forscht im Rahmen seiner Weiterbildung zu den Vorstellungen und Erwartungen von Millennials zu Führung und Kirche der Zukunft. Er leitet die Vineyard Aarau und verantwortet den Studiengang MAS Praktische Theologie bei IGW.

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