Gedanken aus einem Jahr in Durham von Dave Staub
Mein
einjähriger Aufenthalt in Durham (Nordengland) hat sich unerwartet als
ekklesiologisches Science-Fiction-Erlebnis entpuppt. Ob es sich dabei eher um
eine Utopie oder eine Dystopie handelt, bin ich mir noch nicht ganz sicher.
Unzählige
Kirchen-, Abtei- und Klostersilhouetten zeugen von der vergangenen Blüte des
Christentums auf der britischen Insel, doch sind die alten Steinbauten am Zerfallen
oder werden in alternative Shoppingcenter umgebaut.
Die Säkularisierung ist
hierzulande so stark fortgeschritten, dass wenige noch eine Ahnung von Kirche
haben – tatsächlich hat eine aktuelle Umfrage ergeben, dass sich die Mehrheit
der Engländer als religionslos bezeichnen würden. Umso mehr überrascht es, bei
einem Stadtbummel eine Gruppe von älteren Menschen aus der Landeskirche
anzutreffen, die Gebet für Passanten anbietet.
Die Beter stehen auf dem Marktplatz
in Durham, über den sich die alt-ehrwürdige Stadtkirche «St. Nicholas» erhebt.
Mit riesigen, roten Buchstaben auf einem Banner an der Fassade wird für
Alphakurse geworben. Wer hier am Sonntag zur Eucharistiefeier geht, tritt in
einen grossen Raum mit teppichbespanntem Boden mit bequem gepolsterten Stühlen,
die auf eine moderne Bühne hin ausgerichtet sind. An den Wänden hängen lila
Banner, auf denen mit Glitzerschrift «Jesus ist Herr» geschrieben steht. Im
hinteren Teil befindet sich eine Karte mit verschiedenen Missionsgebieten auf
der ganzen Welt sowie eine Menge an Flyern zum Mitnehmen, auf denen die verschiedensten
Dienste und Angebote der Gemeinde vorgestellt werden.
Eine Worship-Band stimmt das
erste Lied an, der Text wird mit einem Beamer an die Leinwand projiziert. Es
folgt die Predigt des Pastors, der die Gemeindeglieder ermutigt, anderen von
ihrem Glauben zu erzählen und Freunde an den bevorstehenden evangelistischen
Event mitzubringen. Das alles erinnert viel stärker an eine evangelikale
Freikirche als an eine gesetzte Landeskirche.
Das ist für
einen Festlandeuropäer erstaunlich. Hier in England gilt es jedoch als selbstverständlich,
dass die evangelikale Strömung nicht nur in Freikirchen, sondern auch als
wichtiger Teil der Landeskirche ihren Ausdruck findet. Der evangelikale
Einfluss wurzelt in den Erweckungsbewegungen des 18. Jahrhunderts und
verstärkte sich im 19. Jahrhundert weiter, als Henry
Ryder als erster evangelikaler Bischof eingesetzt wurde.
Anfangs des
20. Jahrhunderts wurde die evangelikale Bewegung marginalisiert, erhielt aber
durch die «crusades» von Billy Graham neuen Aufwind. 1966 kam es zu einer
signifikanten Entscheidung, als Martin Lloyd-Jones an einer Konferenz der
Evangelischen Allianz die anwesenden Evangelikalen leidenschaftlich dazu
aufforderte, die Landeskirche zu verlassen. John Stott, der im Anschluss
eigentlich den Sprecher hätte freundlich verdanken sollen, setzte stattdessen
zu einer heftigen Schelte an und plädierte für das evangelikale Engagement
innerhalb der Landeskirche. Es scheint, als habe das Votum von Stott längerfristig
überzeugen können, denn heute ist der massive Einfluss der Evangelikalen in der
englischen Landeskirche unbestritten: Evangelikale bekleiden in der Church of
England hochdekorierte Stellen. Etwa ein Drittel der landesweiten
Gottesdienstbesucher und 70% der angehenden Pastoren nennen sich evangelikal. Es
spricht alles dafür, dass diese Zahlen in den kommenden Jahren weiter steigen
werden. Während der Kirchenschwund generell fortschreitet, erleben evangelikale
Initiativen, allen voran Holy Trinity Brompton (HTB, die Gemeinde von Nicky
Gumbel), einen anhaltenden Boom. Sind die Evangelikalen die Rettung für die
englische Landeskirche? – In diesem Sinne äussert sich auf jeden Fall Justin
Welby, Erzbischof von Canterbury, selbst aus dem Hause HTB. Er sieht in den
nächsten Jahren ein «Goldenes Fenster der Veränderung» – jetzt oder nie könne
die Umgestaltung der anglikanischen Kirche geschehen.
Es ist klar: die Evangelikalen sitzen hier im Moment an einem sehr langen Hebel – davon können Evangelikale in der Schweiz und in Deutschland nur träumen. Doch auch das ist nicht unproblematisch, wovon die aktuelle innerkirchliche Diskussion zeugt. Nicht wenige zeigen sich besorgt über den Gemeindebau nach kapitalistischen Prinzipien und damit zusammenhängend über die sich ausbreitende «Monokultur» in der englischen Landeskirche. Sie fragen, ob es denn nur eine Art gebe, das Evangelium zu leben und Kirche zu feiern. Sie machen darauf aufmerksam, dass es auch viele Christen gibt, die ihren Glauben aufrichtig und gewissenhaft leben, aber nicht in den Enthusiasmus der evangelikalen Bewegung einstimmen können. Wo sollen sie in der Kirche ihren Platz haben? Durch die starke evangelikale Profilierung hat die englische Kirche neue Kraft erhalten, viele Menschen anzusprechen. Wie viele aber wurden dadurch abgestossen oder ausgeschlossen? Profilierung bedeutet Konzentration, aber auch Abgrenzung. Dies zeigt sich auch auf gesellschaftlicher Ebene, wo sich der schwelende Konflikt zwischen Kirche und pluralistischem Staat durch die Evangelikalisierung weiter verschärft hat. Der evangelikale Siegeszug hat viel Wichtiges gewonnen, Wertvolles ist ihm aber auch zum Opfer gefallen. Die Situation hinterlässt bei mir gemischte Gefühle.
Der Ausflug in eine andere Welt regt zum Denken über die eigene an. Wie sieht mein Ideal der schweizerischen oder deutschen Kirchenlandschaft aus? Träume ich von einem «take over» der Evangelikalen? Hoffe ich auf ein Nebeneinander oder gar ein Miteinander von Freikirchlern und Landeskirchlern? Wie können unsere Kirchen auch in Zukunft eine Heimat für Christen und entkirchlichte Menschen ganz unterschiedlicher Art bieten? Unser Gesamtbild von einem erstrebenswerten Endziel wird unsere Haltung im Gespräch prägen, das unsere Kirchen im Anbetracht der religionsdemographischen Veränderungen in den nächsten Jahren zwangsläufig miteinander führen müssen.