Einige Gedanken zu richtiger und falscher Loyalität
Zwei grosse Skandale erschüttern derzeit die heile Welt der Christenheit. Im
Bericht der Grand Jury von Pennsylvania lesen wir von über 1000 Kindern, die
von insgesamt 301 Priestern in den USA über Jahrzehnte missbraucht wurden.
Viele dieser Fälle liegen weit zurück und die meisten sind mittlerweile
verjährt oder die Täter verstorben, sodass sie nicht mehr zur Rechenschaft
gezogen werden können. Der Bericht zeigt aber eines sehr deutlich: Viele Fälle
waren bereits bekannt und wurden vertuscht – aus falscher Loyalität zu den
Tätern und zur Kirche.
Eine ähnlich falsche Loyalität zeigten das Leitungsteam und die Nachfolger
von Bill Hybels, als sie mit Berichten zu sexuellem Fehlverhalten ihres Gemeindegründers
konfrontiert waren. Sie wollten nicht wahrhaben, dass ihr Held so etwas getan
haben könnte.
Es ist nun leicht, mit dem Finger zu zeigen und Anschuldigen zu machen – anstatt zu
trauern, sich zu schämen und Massnahmen zu ergreifen, um solche Vorfälle
zukünftig zu vermeiden. Denn diese Probleme gehen uns alle an. Es ist nicht das
Problem einzelner Kirchen, sondern von uns allen. Wir müssen diese Gräueltaten
und Verbrechen aufs Schärfste verurteilen, den Machtmissbrauch anprangern und uns
gleichzeitig darüber bewusst sein, dass sich diese Geschichten ohne sorgfältige
Aufarbeitung wiederholen können. Denn das Hauptproblem ist unsere falsche
Loyalität!
Unser System von Kirche braucht Helden. Es sucht nach den Erfolgreichen,
den herausragenden Persönlichkeiten, den Pionieren. An ihnen können wir uns
orientieren. Sie geben uns Richtung und Sicherheit. Sie vermitteln uns das
Gefühl, dass die Kirche eine Zukunft hat. Sie verkörpern unseren Wunsch nach
Einfluss und Bedeutung. Und so sind wir geblendet von den starken
Persönlichkeiten, den heroischen Leitern, den Männern Gottes, den Generälen,
den Pionieren. In sie projizieren wir unsere Sehnsüchte, unsere Träume und
unsere Wünsche. Dabei vergessen wir, dass jeder Leiter immer noch ein Mensch
ist, mit Schwächen, Fehlern und Herausforderungen. So lange wir denken, dass
das Unmögliche in unseren kirchlichen Kreisen nicht möglich ist, schaffen wir
genau für dieses Unmögliche Raum. Auch in deiner Kirche ist es möglich, dass
ein Mitarbeiter ein Kind unsittlich berührt, zu Hause Kinderpornos schaut, etwas
aus der Kasse nimmt oder immer nur seinen eigenen Willen durchbringt. Die
wenigsten Kirchen sprechen offen über Missbrauchsprävention, über die
Möglichkeit von pädophil empfindenden Menschen, von Co-Abhängigkeiten und
Machtmissbrauch.
Wir gewöhnen uns langsam an den Gedanken, dass Teamkonflikte offen angesprochen und bereinigt, statt unter den Tisch gekehrt werden. Auch dämmert es uns langsam, dass auch in unserer Kirche Menschen sind, die homosexuell empfinden, aber es aus Angst vor Ausgrenzung nicht wagen, dies anzusprechen. Lange Zeit dachte ich, dass es wohl kaum eine Gruppe von Menschen gibt, die so unfähig ist, Konflikte gut zu lösen, wie wir Christen. Doch auch da scheint sich unser Harmonie-Dilemma, wie Verena Bichler es in ihrem Buch "Das Harmonie-Dilemma. Jeder Konflikt verdient eine Chance" benennt, langsam aufzulösen. Eine offene Feedback- und Gesprächs-Kultur scheint auch in unsren Kreisen normal zu werden und auch unterschiedliche Meinungen lösen nicht mehr überall eine Gemeindekrise aus.
Doch ein entscheidendes Feld scheint mir noch immer im Dunkeln zu liegen: der Umgang mit Führungspersonen. Hier spielt zu oft eine falsche Loyalität eine Rolle. Fehler werden geleugnet und zugedeckt, anstatt angesprochen und bereinigt. Wie wäre es gewesen, wenn das Umfeld von Bill Hybels nicht aus einem ersten Impuls heraus gehandelt und alle Anklagen kategorisch als Lügen abgetan hätte? Wie hätten sie zu ihrem Pastor und Gemeindegründer stehen können, um sein Versagen aufzudecken und mit ihm und den Betroffenen durch einen Prozess der Bereinigung zu gehen? Wie viel Schaden hätte abgewendet werden können, wenn die Priester, die Kinder missbraucht haben, schon beim ersten Verdachtsfall in eine Auszeit geschickt worden wären, bis alle Anschuldigungen geklärt und das weitere Vorgehen entschieden gewesen wäre? Und dabei gehört in Fällen von Missbrauch eine Anzeige zwingend dazu! Der Katholische Kirchenkreis Dallas hat interessanterweise bereits 2002 ein Training gegen Missbrauch und eine Null-Toleranz-Politik eingeführt. Sie haben hier also ihre Hausaufgaben gemacht. Papst Franziskus hat zudem mit einer sehr klaren Botschaft auf den Bericht über die Missbrauchsfälle reagiert und seine Null-Toleranz-Politik erneut bekräftigt. Wie weit sind wir da in unseren Landes- und Freikirchen? Unser demokratisches Erbe und unser grundsätzliches Misstrauen mag uns vor einigem bewahren – oder uns manchmal auch das Kind mit dem Bade ausschütten lassen – doch viel wichtiger ist es, falsche Loyalität gegenüber Leitungspersonen zu erkennen, eine offene Diskussions- und Feedbackkultur zu fördern, um auch Führungspersonen auf ihre Fehler oder Charakterschwächen hinzuweisen und noch mehr zu dem zu werden, was unsere eigentliche Aufgabe ist: Ein Segen zu sein und Jesus und sein Reich sichtbar zu machen!
Von Boris Eichenberger